Gesangverein - wozu?

Körperbewusst und leistungsorientiert, wer möchte das nicht sein?

 

Seinen Körper zu üben, sich fit zu halten und Freude daran zu haben, was ist dagegen einzuwenden? Wo der Beruf die körperliche Belastung nicht oder nur einseitig abverlangt, kann der Sport diese Lücke füllen, unsere Sportvereine unterstützen dies in vorbildlicher Weise.

 

Leistungsfähig und -bereit soll er sein, der Mensch in der modernen Erfolgsgesellschaft, und dies ist gut so. Unser Lebensstandard, also auch das weitgehende Nichtvorhandensein von Armut und Hunger, basiert darauf.

 

Warum aber sind die Wartezimmer der Psychiater voll, warum haben die Sekten und Wunderheiler Konjunktur, und warum können die traditionell für die Seelen zuständigen Kirchen dies nicht auffangen?

 

Bei so vielen Warums könnten Sie natürlich zurückfragen: Was sollen diese Fragen in der Festschrift eines Liederkranz-Jubiläums?

 

Die Sache ist ganz einfach: Zentrales Anliegen in der Satzung aller Gesangvereine ist die Pflege und Förderung des Chorgesangs. Und damit rücken zwei Dinge in den Vordergrund, nämlich die Beschäftigung mit Kultur und mit Sinnfragen und die Überwindung der Individualität durch Kommunikation und gemeinsames Tun.

 

Erst die Hinzunahme dieser Dimensionen macht zusammen mit der Körperlichkeit und der Leistung den ganzen Menschen aus.

 

Musik - und nur sie allein - kann die Gefühle, die Seele des Menschen ohne Umwege erreichen.

 

Wir wissen inzwischen, warum das so ist. Ungeborene Kinder nehmen die Lieder und den Rhythmus des Pulsschlages der werdenden Mutter unauslöschlich in sich auf. Auch die ersten Kinderlieder gehören wohl zu einer dauernden Prägung. Musik, die wir in einer bestimmten Gefühlslage "gespeichert" haben, löst diese Gefühle bei jedem Hören wieder aus.

 

Dies nutzen nicht nur die Werbefachleute aus, auch in der Medizin wird Musik gezielt eingesetzt. Blutdruck, Schmerzen, Angst und Stress werden durch Musik positiv beeinflusst. Frühgeborene Kinder erreichen zum Beispiel unter dem Einfluss von Mozart-Musik zwei Monate früher ihr Normalgewicht.

 

Was könnte es also Sinnvolleres geben, als diese sowohl Freude spendende als auch geistig, körperlich und seelisch förderliche Musik gemeinsam auszuüben?

 

Wenn das so ist, warum rennen uns dann speziell die jungen Menschen denn nicht die Bude ein?

 

Irgendwie liegt es wohl nicht im Trend, die selbst angelegten Fesseln der Individualität, der abgeschotteten Clique oder auch der Szene, zu deren Wertesystem man sich bekennt, zu sprengen.

 

Mit diesen Zeilen möchte ich Ihnen andeuten, wie aufregend und vielseitig es sein kann, dieser großen Sache "Musik" zusammen mit den Mitsängerinnen und -sängern zu dienen.

 

Natürlich sind da die "Highlights", die großen Auftritte in Konzerten, bei denen man sich und dem Publikum wunderbare musikalische Geschenke machen kann.

 

Voraus geht aber das vielleicht Wichtigere. In vielen Proben werden aus Noten Töne, aus Tönen Melodien, die sich zu Harmonien schichten, und nach und nach fügen sich die Fragmente zu einem Kunstwerk. Diese Arbeit geschieht zwischen Menschen, die in ihrer Freizeit freiwillig zusammenkommen. Fehler und teilweises Misslingen (natürlich nur vor der Aufführung) werden dabei nicht unbedingt als Unglück, sondern meist humorvoll, auf jeden Fall aber als Ansporn empfunden.

 

Schauen Sie sich die Vielfalt an, die sich in so einem Chor trifft. Ältere und Jüngere, Hand- und Kopfarbeiter, verschiedene Nationalitäten, Landsmannschaften, Religionen und Konfessionen, Konservative und Progressive, Temperamentvolle und Ruhige einigen sich so, daß ein harmonisches Ganzes entsteht.

 

Bei der Einigung wirkt ein zwar undemokratisches aber wohltuend sachkundiges Element mit: der Dirigent, der in Abstimmung mit einem Musikausschuss die richtige Musik auswählt und den Chor dahin ausbildet und hinführt, wo es der Neigung und Befähigung der Aktiven entsprechend angemessen ist.

 

Trotz aller Verschworenheit freuen sich die Sängerinnen und Sänger natürlich über jeden Neuzugang, wobei vielleicht nicht jede(r) so originell eingeführt wird, wie es unserem derzeitigen Vorstand Herbert Zipperlen in seiner ersten Singstunde widerfuhr. Der Bekannte, der ihn für den Chor geworben hatte, ließ ihn wohl kurz aus den Augen bzw. allein, worauf unserem alten und immer zu Scherzen aufgelegten Sänger Max Geke das neue Gesicht auffiel. "Weißt du schon, in welcher Stimme du singst?" fragte er den schüchternen Nachwuchssänger, der etwas verlegen mit den Schultern zuckte. "Pfeif mal!" kommandierte der alte Hase und entschied, nachdem der Jüngling verdutzt den Mund gespitzt und gepfiffen hatte, "2. Tenor!" sei die angemessene Stimmlage.

 

Außer den großen Anlässen sind es viele kleine Gelegenheiten, die ein Sängerjahr ausfüllen. Offizielle Veranstaltungen werden musikalisch umrahmt, der Chor singt für karitative Zwecke, gratuliert mit einem Ständchen, gestaltet Weihnachtsfeiern, Trauerfeiern und Gottesdienste.

 

Zwei große Veranstaltungen führt der Liederkranz Möhringen jährlich durch: das Kinderfest und den Hexenball.

 

Verträge mit Lieferanten abzuschließen, alle erforderlichen Genehmigungen einzuholen (in unserem regulierten Land sind das erstaunlich viele!), den Festzug zu organisieren, Absprachen mit Polizei, Verkehrsbetrieben, Rotem Kreuz zu treffen, das Zelt auf- und abzubauen und betriebsbereit auszustatten, die Kinderspiele vorzubereiten und durchzuführen, die Besucher zu verköstigen und nicht zuletzt den Platz wieder zu reinigen, sind nur einige der Aktivitäten, die unsere Mitglieder und Freunde zum Gelingen des Kinderfestes beitragen.

 

Beim Hexenball kommen zu den organisatorischen und technischen Arbeiten noch die Gestaltung eines spritzigen Faschingsprogramms dazu, einer Aufgabe, der sich die Aktiven mit viel Vergnügen und Vorfreude unterwerfen.

 

Zur historisch korrekten Darstellung des Hexenballes gehört auch die Geschichte vom nicht gelingen wollenden Konfetti-Regen. Zwei technisch misslungenen Versuchen folgte eine technisch nicht angreifbare Lösung, die auch ausgetestet war. Leider erinnerte sich der für das Auslösen Verantwortliche erst an seinen Auftrag, als das Finale längst zu Ende war. Es folgten Jahre der konfettimäßigen Resignation. Ein neuer Versuch sollte dann den endgültigen Durchbruch bringen; in Ballons, die man elektrisch zum Platzen bringen konnte, hing der Konfettisegen bereit. Da die Kapelle schon auf der Bühne ihre Technik aufbaute, fand das Finale vor dem geschlossenen Vorhang statt, der dann leider auch den Blick auf den technisch perfekt niedergehenden Konfettiregen verdeckte...

 

Dass die Liederkranzfamilie trotz der vielen zielgerichteten Aktivitäten noch richtig Spaß haben kann, zeigen verschiedene Unternehmungen wie Wanderungen und Ausflüge, bei denen man Kulturellem nicht aus dem Weg geht, aber auch eine unbeschwerte Geselligkeit pflegt.

 

Also wozu Gesangverein? Es ist der beste und angenehmste Beitrag zur Gesundheitsreform.

 

Xaver Beck 1996 in der Festschrift zum 150jährigen Jubiläum